05.07.2024 | Felix Neubauer & Philipp Krammer | NKVB | Lesedauer: ca. 8 Minuten
Die Verordnung (EG) 1370/2007 der Europäischen Union (EU) hat die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Organisation des ÖPNV in Europa grundlegend verändert. Ziel dieser Verordnung ist es, jedem europäischen Verkehrsunternehmen die gleiche Chance einzuräumen, lokale ÖPNV-Verkehre zu gewinnen und zu betreiben. Dadurch hat der ÖPNV einen wettbewerblichen Charakter erhalten, wodurch sich die Kosten für die öffentliche Hand senken und die Qualität steigern sollte.
Doch die Realität zeigt ein komplexeres Bild. Eindeutig hat der Wettbewerbscharakter den Kostendruck auf die am Markt agierenden Verkehrsunternehmen, die gleichzeitig eine klare Gewinnerzielungsabsicht haben, erhöht. Wenn Kostendruck und Gewinnerzielungsabsicht aufeinandertreffen, leidet in der Praxis oft die Qualität. Es werden verschmutzte oder alte Fahrzeuge eingesetzt oder Personal so gering wie möglich entlohnt. Dies sind nur einige Beispiele für die Folgen dieses Spannungsfelds zwischen ökonomischen Interessen und der Daseinsvorsorge des ÖPNV.
Eine Verschlechterung der Qualität ist sowohl für Aufgabenträger als auch Verkehrsunternehmen ärgerlich. Die ÖPNV-Aufgabenträger haben im Rahmen ihrer Ausschreibung ein bestimmtes Qualitätsniveau vorgeschrieben, das oft nicht eingehalten werden kann. Die tatsächlich erbrachte Leistung entspricht nicht der geforderten und die Fahrgäste leiden unter einer Verschlechterung des ÖPNV.
Haltestellenfahne an der Haltestelle Hölderlinstraße | Foto: Philipp Krammer
Der Wirkmechanismus, der hier oft zu beobachten ist, wird in der Volkswirtschaftslehre „adverse Selektion“ genannt. Hierbei führt Wettbewerbsdruck dazu, dass sich schlechte Qualität durchsetzt. Wie kann es dazu kommen? Man muss sich hierbei in die Rolle eines Busunternehmens einfinden, dass ein Angebot für ein Linienbündel kalkuliert: Konfrontiert mit zahlreichen Qualitätsanforderungen - seien es mehrtägige Schulungen für das Fahrpersonal, hohe Fahrzeugstandards, Bereitstellungszeiten, Notfallkonzepte oder vieles mehr – gilt es dennoch das preisgünstigste Angebot einzureichen, da man sonst den Verkehr verliert. Letzteres kann in vielen Fällen existenzielle Folgen nach sich ziehen. Wir unterstellen: Jedes Busunternehmen ist hier gut beraten, eine Einschätzung zur Glaubwürdigkeit des Auftraggebers vorzunehmen. Werden die hohen und kostenrelevanten Qualitätsanforderungen geprüft? Werden sie durchgesetzt? Ist dem Auftraggeber womöglich gar nicht mehr bewusst, was in die umfangreichen Ausschreibungsunterlagen an kostenrelevanten Vorgaben aufgenommen wurde? Oder stehen in den Verträgen viele Worte und der Auftraggeber wird später nicht genau hinschauen, ob und inwiefern die Vorgaben eingehalten werden. Wenn letzteres der Fall ist, kann es für das Busunternehmen fatale Folgen haben, die geforderten Qualitäten einzuhalten, da die anderen Marktteilnehmer im Zweifel die Schwäche des Auftraggebers ausnutzen, verschiedene kostspielige Anforderungen ignorieren und dadurch mit dem günstigsten Angebot zum Zuge kommen.
"Eindeutig hat der Wettbewerbscharakter den Kostendruck auf die am Markt agierenden Verkehrsunternehmen erhöht"
Im Ergebnis leiden Aufgabenträger, Verkehrsunternehmen und Fahrgäste unter schlechter Qualität. Verwaltungseinheiten, die für Wettbewerbsverfahren im ÖPNV zuständig sind, sollten sich dieser Zusammenhänge daher bewusst sein und bestmöglich gegensteuern. Welche Maßnahmen können nun also ergriffen werden, um die Qualität wieder zu steigern und den Wettbewerb fair zu gestalten? Vorneweg: Wichtig ist, gegenüber den Marktteilnehmern glaubwürdig aufzutreten. Den Busunternehmen muss klar sein: Dem Auftraggeber ist klar, was in seinen Unterlagen steht, die Durchsetzung der Anforderungen ist ihm wichtig und er wird – ohne dabei das berühmte „Fingerspitzengefühl“ aus dem Auge zu verlieren – nach Mitteln und Wegen suchen, die Forderungen durchzusetzen. Dass damit ein nicht unerheblicher Arbeitsaufwand verbunden ist, sollte auch den Verwaltungseinheiten klar sein. Wenn Personalkapazitäten - etwa für Kontrollen der Qualitätsanforderungen - knapp sind, lohnt es sich bereits bei der Erstellung der Ausschreibungsunterlagen bei jeder Anforderung abzuwägen: Kann und will ich diese Anforderung prüfen und durchsetzen? Reichen meine personellen Kapazitäten hierzu? Wenn die Antwort auf diese Frage eindeutig „nein“ lautet, ist unser Tipp: Weniger ist mehr! Lieber weniger Qualitätsanforderungen, bei denen die Marktteilnehmer auf eine Kontrolle und Durchsetzung des Auftraggebers vertrauen, als Aktenordner voller Anforderungen in Kombination mit einer „Laissez-Faire“-Herangehensweise des Aufgabenträgers und einer zwangsweise folgenden „Schlendrian“-Herangehensweise der Verkehrsunternehmen.
Was sind Vertragskontrollen?
Vertragskontrollen im ÖPNV sind entscheidende Maßnahmen zur Überwachung der Einhaltung von vertraglich festgelegten Qualitätsstandards und Leistungsbeschreibungen durch Verkehrsunternehmen. Diese Kontrollen sollen gewährleisten, dass die geforderte Qualität eingehalten wird.
Vertragskontrollen können mit unterschiedlichem Fokus und zu unterschiedlichen Themen erfolgen:
Objektive und subjektive Qualitätsmerkmale
Grundsätzlich muss bei der Messung von Qualität zwischen objektiven / harten und subjektiven / weichen Qualitätsmerkmalen unterschieden werden.
Harte Qualitätsmerkmale sind solche, die sich objektiv und eindeutig messen lassen. Dazu zählen beispielsweise die Pünktlichkeit einer Fahrt sowie das Fahrzeugalter. Beide Merkmale lassen sich nachvollziehbar bestimmen. Harte Qualitätsmerkmale eignen sich gut für Bonus- und Malusregelungen in Anreizverträgen. Konstatiert der Aufgabenträger einen Mangel, so ist dieser auch für das Verkehrsunternehmen greifbar, da der Mangel eindeutig gemessen wird. Die Messung harter Qualitätsmerkmale ist daher vergleichsweise einfach. Ein Nachteil harter Qualitätsmerkmale ist, dass der Kundennutzen einzelner Merkmale zum Teil unersichtlich bleibt. Dies gilt beispielsweise für Aufgabenträger-Marketing auf den Fahrzeugen. Zwar ist dieser Bestandteil einer Leistungsbeschreibung klar messbar, der Nutzen von Aufklebern auf dem Fahrzeug bleibt für den Kunden jedoch abstrakt. Eine zu starke Fokussierung auf harte Kriterien birgt die Gefahr, dass weichen Kriterien zu wenig Beachtung geschenkt wird. Dabei spielen viele weiche Kriterien, wie etwa die Freundlichkeit und Auskunftsfähigkeit des Fahrpersonals, eine entscheidende Rolle für die Wahrnehmung des ÖPNV.
"Sowohl harte als auch weiche Kriterien sollten bei Vertragskontrollen berücksichtigt werden"
Weiche Qualitätsmerkmale lassen sich jedoch nicht objektiv messen. Zu diesen Merkmalen zählen zum Beispiel die Sauberkeit des Fahrzeugs, die Freundlichkeit des Personals und der Komfort der Sitzplätze. All diese Faktoren werden subjektiv unterschiedlich empfunden, weswegen eine Messung sowie Kategorisierung schwierig ist. Da jeder Fahrgast die Freundlichkeit des Fahrpersonals unterschiedlich bewertet, können auch Fahrgastbefragungen kein objektives Fundament bilden. Darüber hinaus lässt sich kaum bestimmen, ab wann es sich bei weichen Qualitätsmerkmalen tatsächlich um einen Mangel handelt. Dieses Dilemma kann etwa durch generelle Kundenzufriedenheitsbefragungen gelöst werden. Hierbei können Fahrgäste ihre Beurteilung zu einer Vielzahl von weichen Kriterien abgeben, woraus sich eine Gesamtbewertung – etwa nach Schulnoten-Logik – ergibt. Gerade wenn der Aufgabenträger bei einer Kundenbewertung mit einem Bonus reagiert (statt schlechte Bewertungen mit Strafen zu belegen), findet dieses Vorgehen meist Akzeptanz bei den Marktteilnehmern.
Es zeigt sich, dass sowohl objektive / harte als auch subjektive / weiche Qualitätsmerkmale Vor- und Nachteile haben. Die Erfahrung zeigt, dass sowohl harte als auch weiche Merkmale bei Vertragskontrollen berücksichtigt werden können, wobei methodisch unterschiedliche Herangehensweisen ratsam sind.
Die Frage nach dem Kontrollumfang
Bei der Frage nach einem angemessenen Kontrollumfang sind die vorhandenen Ressourcen der Aufgabenträger von zentraler Bedeutung. Je höher der Kontrollumfang, desto genauere Informationen liegen über den Erfüllungsgrad der Anforderungen vor. Allerdings steigen die Kosten für das Qualitätsmanagement auch, sodass abgewogen werden muss.
Im Allgemeinen lässt sich zum Kontrollumfang sagen, dass der Umfang der Kontrollen mit dem Umfang des Verkehrs zusammenhängen sollte. Aufgabenträger sind gut beraten, ihre Verkehrsverträge nach Umfang zu sortieren oder zu clustern, wobei sich meist der Maßstab der jährlichen Kilometerleistung anbietet. Je nach Personalressourcen und geltenden Qualitätsanforderungen sollte nun festgelegt, welche Themen (Mitfahrten in den Fahrzeugen, Inspektion von Haltestellen, Mystery-Shopping in Kundenbüros oder Controlling von Pünktlichkeit, Echtzeit oder Ähnlichem von Büroarbeitsplätzen aus) in welchem Umfang kontrolliert werden sollen. Oft lohnt es sich darüber hinaus, einen Mindestkontrollumfang für kleine Verkehrsverträge sowie einen Maximalkontrollumfang für große Verkehrsverträge festzulegen. Ansonsten droht bei kleinen Verkehrsverträgen ein zu großer Zufallsfehler, was bedeutet, dass man bei einer kleinen Stichprobe Gefahr läuft, zufällig gerade die sehr schlechten oder eben sehr guten Fälle zu kontrollieren und damit die falschen Rückschlüsse auf den Qualitätserfüllungsgrad zu ziehen. Bei großen Bündeln ist dafür ein Maximalwert oft sinnvoll, da ansonsten der Kontrollaufwand aus dem Ruder läuft und der Erkenntnisgewinn für weitere Kontrollen nicht im Verhältnis zu den Kosten steht. Zusammengefasst: Eine Staffelung des Kontrollumfangs nach Größe des Verkehrs macht Sinn, allerdings in einem gewissen Rahmen, sodass bei kleinen Verkehrsverträgen nicht etwa eine kontrollierte Fahrt im Jahr über die komplette Qualitätsbeurteilung entscheidet und für große Verkehrsverträge nicht ein zu großer Anteil des Kontrollbudgets verbraucht werden muss.
Fahrt- und Haltestellenkontrollen
Nachdem die harten und weichen Qualitätsmerkmale sowie die Frage des Kontrollumfangs erläutert wurden, soll nun ein Blick auf die Fahr- und Haltestellenkontrollen geworfen werden. Sie dienen dazu, mehr Informationen über den Ist-Zustand von Verkehren zu erhalten. Dabei kann sowohl auf harte als auch auf weiche Qualitätsmerkmale zurückgegriffen werden, wobei die harten Merkmale bei dieser Methodik der Vertragskontrollen stärker zum Tragen kommen.
Was genau kontrolliert werden sollte, ist maßgeblich abhängig von den geforderten Qualitätskriterien. Es ist daher nicht praktikabel, einen allgemeinen Katalog an Kontrollfragen zu erstellen. Bei Fahrtkontrollen, also der Mitfahrt von Kontrollpersonal im Fahrzeug, können wichtige Kontrollgegenstände beispielsweise sein: Busanzeige, Haltestellenanzeige, Haltestellenansage, Sicherheitsmerkmale wie Nothämmer oder Beschädigungen des Fahrzeugs, Beklebung, Verkauf, Beleuchtung, Sauberkeit, WLAN, Fahrzeugtyp und Fahrzeugalter. An Haltestellen zählen Aushangfahrpläne, Tarifinformationen, Umgebungspläne, Wetterschutz, Funktionsfähigkeit technischer Einrichtungen, wie Informationsanzeigen zu gängigen Kontrollgegenständen. Wichtig ist auch die Lesbarkeit und Aktualität der vorhandenen Informationsmedien.
Fahrt- und Haltestellenkontrollen können sowohl durch die Aufgabenträger selbst als auch durch Externe durchgeführt werden. Beide Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile.
Kontrollen durch das Personal des Aufgabenträgers: Diese Methode hat den entscheidenden Vorteil, dass die Mitarbeiter des Aufgabenträgers die Möglichkeit haben, sich selbst ein Bild von den von ihnen betreuten Verkehren zu machen. Häufig ist Fingerspitzengefühl und eine Einschätzung der Gesamtsituation des Verkehrs erforderlich, was dem Personal des Aufgabenträgers besser gelingt als Externen. Sie kennen die Besonderheiten des Verkehrsgebietes und die bereits getroffenen Vereinbarungen mit den Verkehrsunternehmen. Für neue Kolleginnen und Kollegen besteht zudem die Möglichkeit, das von ihnen betreute Verkehrsgebiet besser kennenzulernen. Ein Nachteil der Kontrollen durch Aufgabenträgerpersonal sind sicherlich die Kosten. Die Kontrollaufgaben stellen in der Regel keine hohen Anforderungen an die fachliche Qualifikation. Da aber das Kontrollpersonal über genau diese Qualifikation verfügt und entsprechend entlohnt wird, entstehen hier höhere Kosten.
Die Witterung beeinflusst die Haltestellenqualität ebenfalls stark | Foto: Philipp Krammer
Kontrollen durch externe Dienstleister: Der Hauptvorteil externer Dienstleister liegt sicherlich in den geringeren Kosten im Vergleich zur oben beschriebenen Methode. Externe Dienstleister zahlen in der Regel weniger für das erforderliche Personal, da auch die erforderliche Qualifikation geringer ist. Dennoch sollte man sich nicht vorschnell für externe Dienstleister entscheiden. Nicht selten weisen die erhobenen Kontrolldaten eine schlechtere Datenqualität auf. Dies kann auf die geringere Sachkenntnis des externen Kontrollpersonals sowie auf einen Interessenkonflikt zwischen Gewinnerzielung und den Interessen des Auftraggebers zurückzuführen sein.
Beide Methoden haben daher Vor- und Nachteile, die sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen.
Dieser Artikel ist Teil 1 von 3
Dieser Artikel ist der erste Teil von einer Beitragsreihe zum Thema Qualität im ÖPNV. Die kommenden Artikel setzen sich vor allem mit dem Thema Auswertung von Vertragskontrollen, Vertragsstrafen und Anreizsystemen auseinander. Wenn Sie keinen dieser Beiträge verpassen möchten, registrieren Sie sich gerne für unseren Newsletter.
NKVB mit großer Erfahrung in Qualität im ÖPNV
Die Experten der NKVB haben in der Vergangenheit bereits ausführliche Vertragskontrollen aufgebaut und begleitet. Wir wissen, worauf es ankommt, wie Ressourcen effektiv eingesetzt werden können und die Qualität im ÖPNV nachhaltig gesteigert werden kann. Wir unterstützen Sie gerne, wenn Sie selbst Vertragskontrollen (auch: Vertragscontrolling) in Ihrem Landkreis oder Verbund aufbauen möchten. Kontaktieren Sie uns gerne für ein unverbindliches Gespräch zu diesem Thema.
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